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Es war kein Erinnerungsblitz gewesen.
Sie wusste es, denn sie hatte den ganzen Tag über Erinnerungsblitze gehabt, beängstigende, wiederkehrende Rückblenden, die sie überwältigt hatten, und sie war schwach und erschöpft gewesen, als die Wirklichkeit wieder einsetzte.
Marlie kannte die Einzelheiten ihres eigenen, ganz besonderen Alptraumes, sie waren ihr so bekannt wie ihr eigenes Gesicht; doch die Bilder, die den ganzen Tag über ihr Gehirn durchjagten, waren neu für sie, anders. Als sie am vergangenen Nachmittag aus ihrer Benommenheit erwacht war, hatte sie sich an nicht viel mehr erinnern können als an das Auftauchen eines Messers, das zustieß, und sie war noch immer so müde gewesen, dass sie nicht reagieren konnte. Sie war früh ins Bett gegangen und hatte tief und traumlos geschlafen bis beinahe zur Morgendämmerung, als erste Fragmente ihr wieder bewusst wurden.
Diese Bruchstücke der Erinnerung hatten sie den ganzen Tag beschäftigt, und es war ihr kaum gelungen, sich von dem vorherigen zu erholen, als sich auch schon das nächste, lebhaft und entsetzlich, in ihr Gedächtnis drängte. So war es noch nie zuvor gewesen. Sie hatten sie ausgelaugt, das stimmte, aber bis jetzt war sie immer in der Lage gewesen, sie sich der Reihe nach zu vergegenwärtigen. Diese ständigen Angriffe verwirrten sie, und sie war hilflos vor Müdigkeit. Einige Male war sie versucht gewesen, Dr. Ewell anzurufen und ihm von dieser beängstigenden neuen Entwicklung zu erzählen, doch irgend etwas hatte sie zurückgehalten.
Eine Frau war ermordet worden. Das stand unumstößlich fest. Der Himmel helfe ihr, aber ihr prophetisches Wissen war zurückgekehrt - doch irgendwie anders, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Die Vision war sehr deutlich gewesen, deutlicher als alles, was sie zuvor erlebt hatte; aber das Opfer entzog sich ihr, und sie vermochte nicht zu sagen, wo es geschehen war. Zuvor hatte sie in der Regel eine Ahnung gehabt, verfügte über irgendwelche Anhaltspunkte der Identität und des Ortes; doch diesmal fehlte das alles. Sie fühlte sich desorientiert, ihr Verstand strengte sich an, ein Signal zu erwischen, doch es gelang ihr nicht. Es war ein Gefühl, als ob eine Kompassnadel sich im Kreise drehte auf der Suche nach dem magnetischen Pol, der nicht vorhanden war.
Wieder und wieder hatte sie den Mord in inneren Bildern gesehen, und jedesmal waren mehr Einzelheiten hervorgetreten, als würde der Wind Lage um Lage des Nebels vertreiben. Und jedesmal wenn sich die Vision wiederholt hatte und sie erschöpfter war als zuvor, war sie immer mehr außer sich geraten.
Sie sah das Ganze durch seine Augen.
Es war sein Verstand gewesen, der von ihrem Besitz ergriffen hatte, die mentale Kraft seiner Wut war durch sechs Jahre des leeren, beglückenden Nichts gedrungen und hatte sie wieder einmal aufgerüttelt, hatte sie zu ganz besonders feinfühliger Wahrnehmung getrieben. Es war nicht so, dass sie das Ziel seines Angriffs gewesen war, nein, sicher nicht. Die enorme Woge an mentaler Energie war ziellos aufgebrochen, ganz unbeabsichtigt, er hatte nicht gewusst, was er damit anrichtete. Normale Menschen konnten sich nie vorstellen, dass es Menschen wie sie mit derart empfindsamem Verstand gab; diese konnten elektrische Signale auffangen, die die Gedanken anderer ausstrahlten, konnten die noch verbleibenden Energiemuster lang vergangener Ereignisse fühlen, ja sogar Dinge, die noch gar nicht geschehen waren, vorhersehen. Das hieß allerdings lediglich, dass der Täter normal war, was seinen Mangel an Empfindsamkeit anbelangte - Marlie hatte schon vor langer Zeit für sich selbst den Unterschied formuliert: Normale Menschen waren diejenigen, die keine mentalen Signale wahrnehmen konnten. Sie selbst jedoch besaß diese Fähigkeit, und das hatte sie für immer von den anderen Leuten abgesondert, bis zu dem Tag vor sechs Jahren, als sie in einem Alptraum gefangen gewesen war, der sie noch immer verfolgte. Und diese Erschütterung hatte bewirkt, dass ihr übernatürlicher Sinn sich verschlossen hatte. Sechs Jahre lang hatte sie wie ein normaler Mensch gelebt und hatte es genossen. Sie wollte, dass dieses Leben so weiterging. Langsam, über die Jahre hinweg, hatte sie die Hoffnung genährt, dass ihre Sehergabe nicht zurückkehren würde. Doch sie hatte sich geirrt. Vielleicht hatte es so lange gedauert, bis ihr Verstand geheilt war; aber jetzt waren die Visionen wieder da, stärker und noch viel auslaugender als je zuvor.
Ihre Sicht erfolgte jetzt durch die Augen des Mörders.
Ein Teil von ihr hoffte immer noch... aber was? Dass es vielleicht doch nicht die Realität war? Dass sie dabei war, den Verstand zu verlieren? Wäre es ihr wirklich lieber, einer Täuschung zu erliegen, als die Rückkehr ihrer Visionen sowie das Ende ihres normalen Lebens zu akzeptieren?
Sie hatte die Sonntagszeitung durchgeblättert, doch war es ihr nicht gelungen, sich zu konzentrieren; die Erinnerungsblitze hatten sich überstürzt, waren zu heftig gewesen. Da stand nichts von einem Mord, nichts, das eine Reaktion bei ihr hervorgerufen hätte. Vielleicht hatte es einen Artikel in der Zeitung gegeben, und sie hatte ihn nur übersehen, sie wusste es nicht. Vielleicht war es ja auch nicht hier in der Nähe geschehen, und sie hatte nur durch Zufall die mentalen Signale des Mörders empfangen. Wenn die Frau in einer anderen Stadt lebte, vielleicht in Tampa oder Daytona, dann würde es nicht in der Zeitung von Orlando stehen. Marlie würde nie erfahren, wer diese Frau gewesen war oder wo sie gelebt hatte.
In gewisser Weise war sie feige. Sie wollte es gar nicht wissen, wollte nicht, dass die Hellsichtigkeit wieder Teil ihres Lebens wurde. Sie hatte sich hier in Orlando ein sicheres und solides Leben aufgebaut, es würde zerstört werden, wenn sie sich wieder in diese Dinge verwickeln ließe. Die Reihenfolge war ihr bekannt: Zuerst kam der Zweifel, ihm folgte der Spott. Und dann, wenn die Menschen gezwungen waren, die Wahrheit zu akzeptieren, reagierten sie misstrauisch und ängstlich. Sie würden ihr Talent gern benutzen, doch ihre Freunde wollten sie nicht sein. Menschen würden sie meiden, kleine Kinder in ihre Fenster blicken und dann schreiend weglaufen, wenn sie sie entdeckten. Die älteren Kinder würden sie >Hexe< nennen. Und es war ganz unvermeidlich, dass irgendein religiöser Fanatiker etwas über das >Werk des Teufels< in die Welt setzte, und vor ihrem Haus würden sporadisch Mahnwachen auftauchen. Nein, sie müsste dumm sein, dieses Kapitel nochmals aufzurollen.
Aber sie konnte nicht aufhören, sich Gedanken über das Opfer zu machen. Es war eine Art schmerzliches Bedürfnis, wenigstens ihren Namen zu wissen. Wenn jemand starb, dann sollte wenigstens der Name des Menschen bekannt werden, als eine kleine Verbindung zur Ewigkeit, die bedeutete: Dieser Mensch war hier, dieser Mensch hat bei uns gelebt. Ohne Name war alles leer.
Deshalb stellte sie jetzt den Fernsehapparat an, obwohl sie noch immer vor Müdigkeit zitterte; zerstreut wartete sie darauf, dass die Lokalnachrichten begannen. Ein paarmal wäre sie fast eingenickt, doch immer wieder riss sie sich zusammen.
»Wahrscheinlich hat das alles gar nichts zu bedeuten«, murmelte sie vor sich hin. »Du wirst den kürzeren ziehen, das ist alles.« Ein eigenartiger Trost, aber ihr half er. Die geheimen Ängste der Menschen unterschieden sich, und sie wäre lieber verrückt, als dass sie recht behielt.
Der Bildschirm des Fernsehgerätes flackerte, als ein neues Thema begann; diesmal erging der Sprecher sich eine ganze Minute über die Auswirkungen der Crack-Banden in der Innenstadt. Marlie blinzelte, sie bekam plötzlich Angst, dass die Bilder, die sie im Fernsehen sah, sie mit Visionen überhäufen würden, wie damals, als sie die Gefühle der Menschen, die sie beobachtete, hatte lesen können. Doch nichts geschah. Ihr Kopf blieb leer. Nach einer Minute entspannte sie sich und seufzte erleichtert auf. Nichts fühlte sie, keine Verzweiflung und auch keine Hoffnungslosigkeit. Ihre Laune besserte sich ein wenig - wenn diese Bilder und Gefühle sie nicht erreichen konnten, so wie in der Vergangenheit, dann wurde sie ja vielleicht wirklich ein wenig verrückt.
Sie blickte weiter auf das Fernsehbild und ließ sich davon einlullen. Schließlich gab sie der Müdigkeit nach, versank in einen leichten Schlummer, obwohl sie halbherzig versuchte, wach zu bleiben, um auch den Rest der Nachrichten mitzubekommen.
- »... NADINE VINICK ...«
Marlie fuhr hoch, als der Name in ihrem Kopf dröhnte; ihre innere Erkenntnis traf mit Wucht auf diesen Namen, den der Ansager soeben ausgesprochen hatte. Sie setzte sich auf, hatte gar nicht bemerkt, dass sie vor Schwäche zusammengesunken war. Ihr Herz klopfte wild, und sie hörte ihren eigenen Atem, der in Hecheln überging, während sie auf den Fernseher starrte.
»Die Polizei von Orlando veröffentlicht keinerlei Informationen über den Mord an Mrs. Vinick, die erstochen wurde, da das Verbrechen noch untersucht wird.«
Ein Foto des Opfers erschien auf dem Bildschirm. Nadine Vinick. Das war die Frau, die Marlie in ihrer Vision gesehen hatte. Den Namen hatte sie noch nie zuvor gehört, doch sie erkannte sie wieder, und dieses Gefühl war so stark, dass sie es nicht ignorieren konnte. Allein den Namen im Fernsehen ausgesprochen zu hören war wie eine Trompete, die in ihrem Kopf dröhnte.
Also stimmte es, es war Wirklichkeit. Alles.
Die mentalen Fähigkeiten waren zurückgekehrt...
Und würden ihr Leben zerstören, wenn sie nicht etwas dagegen unternahm.
Am Montag morgen starrte Dane auf die Fotos des Tatortes. Jede winzigste Kleinigkeit ging er wieder und wieder durch, während er seinen Gedanken erlaubte abzuschweifen, weil er hoffte, irgendeine bisher unbemerkte Einzelheit würde ihm dabei auffallen, irgend etwas, das ihm einen Anhaltspunkt geben könnte, irgendein Zeichen. Sie hatten nichts, auf dem sie aufbauen konnten, verdammt, absolut nichts. Eine Nachbarin auf der anderen Straßenseite hatte einen Hund bellen hören, um elf Uhr, meinte sie; doch der Hund war dann wieder verstummt, und sie hatte sich nichts dabei gedacht, bis man sie befragt hatte. Mr. Vinick war an seinem Arbeitsplatz gewesen, er hatte einem anderen Mann geholfen, einen Lastwagen auszuladen und konnte jede Minute seiner Zeit nachweisen. Der Gerichtsmediziner war ohne Zeugen nicht in der Lage, eine genaue Todeszeit festzustellen, und die Zeitspanne schloss auch die halbe Stunde ein, ehe Mr. Vinick zur Arbeit aufgebrochen war. Dane verließ sich auf seinen Instinkt, der ihm sagte, Mr. Vinick sei unschuldig. Seine Mitarbeiter hatten ausgesagt, dass Mr. Vinick sich völlig normal verhalten hatte, als er zur Arbeit gekommen war, er hatte sogar seine Späße gemacht. Er müsste schon ein wahrhaftiges Monster sein, was kein Mensch von ihm behauptete, wenn er seine Frau abgeschlachtet, sich ganz kühl gesäubert, sich umgezogen hätte und dann zur Arbeit gegangen wäre ohne das leiseste Anzeichen von Nervosität.
Samenspuren hatten sie nicht gefunden, obwohl der Gerichtsmediziner berichtet hatte, dass Verletzungen an der Vagina darauf schließen ließen, dass Mrs. Vinick brutal vergewaltigt worden war. Auch keine Fasern fielen auf, die nicht ins Haus gehörten, nur diejenigen, die von der Polizei selbst ins Haus getragen worden waren. Nirgendwo lagen Haare herum, weder Kopf- noch Schamhaare. Es gab auch keine Fingerabdrücke. Und Nadine Vinicks Finger waren allesamt verschwunden.
»Wir haben keinen einzigen Shit«, murmelte er und warf die Fotos auf den Schreibtisch.
Trammell brummte zustimmend. Sie waren beide müde; in den letzten achtundvierzig Stunden, seit sie das Haus der Vinicks betreten hatten, war kaum eine Pause möglich gewesen. Und mit jeder Stunde, die verging, wurden die Chancen, den Mörder dingfest zu machen, geringer. Verbrechen wurden entweder sehr schnell aufgeklärt, oder sie versanken in Unbeweisbarkeit. »Sieh dir die Aufstellung des Mülls einmal an.«
Er reichte Dane die Liste, der einen Blick darauf warf. Es war der übliche Abfall, Essensreste, leere Kartons von Frühstücksflocken und Milch, eine Ansammlung von Reklamebriefen, Plastiktüten aus verschiedenen Läden, benutzte Kaffeefilter, ein Pizzakarton, in dem noch zwei Stücke übriggeblieben waren, benutzte Papiertaschentücher, eine Einkaufsliste, die Fernsehzeitung der letzten Woche, ein paar Zettel mit Telefonnummern, ein ungültig gemachter Scheck, der an die Telefongesellschaft adressiert war, einige leere Spraydosen, die Tageszeitungen von einer Woche - offensichtlich hielten die Vinicks nichts von Mülltrennung. Aber etwas Ungewöhnliches oder Auffallendes war nicht dabei.
»Was ist mit den Telefonnummern?« fragte er.
»Ich habe bei beiden angerufen.« Trammell lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Füße mit den teuren italienischen Lederschuhen auf den Schreibtisch. »Die eine ist die des Pizzaladens, die andere die der Kabelgesellschaft.«
Dane grunzte. Auch er lehnte sich zurück und legte die Füße auf seinen Tisch. Doch er trug Dan-Post-Schuhe und keine von Gucci, und die seinen waren obendrein abgelaufen. Zum Teufel damit! Er und Trammell sahen sich über vier Füße und zwei Schreibtische hinweg an. Manchmal erhielten sie in dieser Position ihre besten Denkergebnisse.
»Eine Pizzalieferung würde bedeuten, dass ein Fremder ins Haus gekommen ist, und die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, dass die Kabelgesellschaft einen Mann zur Reparatur geschickt hat.«
Trammells schmales dunkles Gesicht war nachdenklich verzogen. »Selbst wenn ein Mann ins Haus gekommen wäre, um irgend etwas zu reparieren, wäre er auf keinen Fall in der Nacht eingetroffen.«
»Und wahrscheinlich ist auch unsere Hoffnung vergebens, dass Mrs. Vinick ausgerechnet so spät am Abend noch eine Pizza bestellt hat, um sie dann ganz allein zu essen. Die Analyse ihres Mageninhaltes ...« Dane streckte die Hand aus und suchte unter den verstreuten Papieren auf dem Tisch, bis er das gefunden hatte, was er suchte. »Hier ist es. Der Arzt sagt, sie hätte in den letzten vier oder fünf Stunden nichts mehr gegessen. Keine Pizza. Also muss die Pizza in der Mülltonne schon älter gewesen sein, vielleicht vom letzten Mittagessen. Oder vielleicht war sie sogar einen oder zwei Tage alt.« Auch wenn diese Lösung sich noch so verlockend anbot, in seiner ganzen Laufbahn war niemals ein Pizzalieferant der Täter gewesen.
»Wir können von Mr. Vinick ganz genau erfahren, wann sie die Pizza bestellt haben.«
»Und die Kabelgesellschaft kann uns sagen, ob sie einen Mann für eine Reparatur ins Haus der Vinicks geschickt haben.«
»Also haben wir ganz sicher einen, vielleicht sogar zwei Fremde, die im Haus waren. Einen Pizzalieferanten fertigt man zwar normalerweise an der Tür ab, doch könnte er sie gesehen haben. Einen Mann, der etwas reparieren muss, lässt man allerdings normalerweise herein.«
»Frauen unterhalten sich oft mit diesen Leuten«, meinte Dane und seine Augen zogen sich zusammen, während er diesen Gedanken weiterspann. »Vielleicht hat sie ihn ja gebeten, ein wenig leise zu sein, weil ihr Mann Nachtschicht hatte und im Schlafzimmer ruhte. Und der Mann sagt, ja, er habe auch schon in der Nachtschicht gearbeitet, und das sei ganz schön anstrengend. Er fragt sie, wo ihr Mann denn arbeitet. Und sie sagt es ihm, vielleicht verrät sie ihm sogar, um wie viel Uhr er zur Arbeit geht und wann er zurückkommt. Warum sollte sie sich Sorgen machen? Immerhin hätte die Kabelgesellschaft den Mann wohl kaum eingestellt, wenn er nicht ein anständiger Mensch wäre. Frauen denken nicht weiter darüber nach, wenn sie Handwerker ins Haus lassen und sich mit ihnen unterhalten, während sie etwas reparieren.«
»Okay.« Trammell zog sich einen Block heran und legte ihn auf die Knie. »Erstens: Wir fragen Mr. Vinick, wann die Pizza geliefert wurde, vielleicht kann er uns sogar eine Beschreibung des Mannes geben, der sie gebracht hat.«
»Der Person, die sie gebracht hat. Immerhin hätte es auch ein Mädchen sein können. Genau wie die Person von der Kabelgesellschaft, die die Reparatur ausgeführt hat.«
Dane fühlte sich schon ein wenig besser. Jetzt arbeiteten sie wenigstens, hatten eine Richtung, auf die sie sich konzentrieren konnten.
Sein Telefon läutete. Es war der Hausanschluss Er drückte auf den Knopf und hob den Hörer ab. »Hollister.«
»Dane«, sagte Leutnant Bonness. »Kommen Sie und Trammell bitte in mein Büro.«
»Wir sind schon auf dem Weg.« Er legte den Hörer auf. »Der Leutnant bestellt uns zu sich.«
Trammell schwang die Füße vom Schreibtisch und stand auf. »Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?« beklagte er sich.
Dane zuckte mit den Schultern. »Irgendwie fühle ich mich unschuldig.« Er war sicher nicht das Bild eines unflätigen Polizisten, wie man ihn oft im Kino sah; aber er hatte ein gewisses Talent, anderen auf die Füße zu treten und Leute zu verärgern. Es war nun einmal so. Ihm fehlte die Geduld mit Menschen, die Mist bauten.
Das Büro des Leutnants hatte zwei große Fenster zum Flur hin, deshalb sahen sie die Frau, die mit dem Rücken zum Fenster saß, schon ehe sie das Büro betraten. »Wer ist sie?« murmelte Dane, und Trammell schüttelte den Kopf. Bonness winkte ihnen, einzutreten. »Kommt rein und macht die Tür zu.«
Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, sagte Bonness: »Marlie Keen, das sind die Kriminalbeamten Hollister und Trammell. Sie bearbeiten den Fall Vinick. Miss Keen hat einige sehr interessante Informationen.«
Trammell setzte sich auf die andere Seite des Schreibtisches von Bonness, weit weg von Miss Keen. Dane lehnte sich an die Wand gegenüber; er stellte sich so, dass sie ihn nicht direkt sehen, doch er sehr wohl ihr Gesicht beobachten konnte. Sie hatte ihn und Trammell kaum eines Blickes gewürdigt, auch den Leutnant sah sie nicht an. Statt dessen schien sie sich auf die Jalousie vor dem Fenster zu konzentrieren.
Ein kurzes Schweigen senkte sich über die kleine Gruppe, während der sie ihre Kräfte einzusammeln schien. Sie war so angespannt, Dane konnte förmlich sehen, wie ihre Muskeln sich verkrampften. Sie hatte etwas Anziehendes an sich, etwas, das ihn veranlasste, sie immer wieder anzusehen. Man konnte sie nicht als Schönheit bezeichnen, obwohl sie ein ebenmäßiges Gesicht besaß; doch schien sie nichts dafür zu tun, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie trug schlichte, schwarze flache Schuhe, einen engen schwarzen Rock, der ihr bis zur Mitte der Unterschenkel reichte und eine ärmellose weiße Bluse. Ihr hübsches dunkles Haar, das sie zu einem strengen Knoten zusammengebunden hatte, schimmerte. Ungefähr dreißig Jahre wird sie sein, überlegte Dane, der sie automatisch mit den Augen des Polizisten taxierte. Es war schwer zu sagen, weil sie saß, doch nahm er an, dass sie mittelgroß war, vielleicht ein wenig kleiner. Und sie war dünner, als er Frauen mochte, ungefähr hundertzwanzig Pfund würde sie wiegen. Er mochte gerne Frauen mit Pölsterchen und nicht nur Knochen.
Sie hatte die Hände fest im Schoß zusammengepresst. Er betrachtete sie, schlanke, feingliedrige Hände, ohne jeglichen Schmuck; und sie verrieten ihre Anspannung, wenn er nicht sowieso längst gemerkt hätte, dass sie eher steif auf dem Stuhl saß als ruhig und gelassen.
»Ich besitze übersinnliche Wahrnehmungsfähigkeiten«, sagte sie ohne Vorwarnung. Dane musste sich zurückhalten, um nicht spöttisch aufzulachen. Er und Trammell warfen einander einen schnellen Blick zu, sie dachten beide das gleiche: Wieder eine der verrückten kalifornischen Ideen des Leutnants!
»Am letzten Freitag fuhr ich spät am Abend nach Hause, nach einem Kinobesuch«, sprach sie mit monotoner Stimme weiter, die dennoch nicht das ein wenig raue Timbre verdecken konnte. »Es ist die Stimme einer Raucherin«, dachte Dane, obwohl er darauf gewettet hätte, dass sie Nichtraucherin war. So intensive Menschen wie sie gaben sich nur sehr selten leichtfertigen Lastern hin. »Es war ungefähr halb zwölf, als ich das Kino verließ. Ich war gerade vom Expressway abgefahren, als ich die Vision eines Mordes hatte, der in dem Moment stattfand. Diese... Visionen sind überwältigend. Es gelang mir, an den Straßenrand zu fahren.«
Sie hielt inne, als spräche sie nur sehr ungern weiter. Dane bemerkte, wie sie die Hände rang und sie dann so fest zusammenpresste, dass sie ganz weiß wurden. Das Atmen fiel ihr schwer.
»Ich sehe den Mord durch seine Augen«, sagte sie tonlos. »Er ist durch ein Fenster in das Haus eingeklettert.«
Dane erstarrte, er richtete seine Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht. Er brauchte Trammell gar nicht anzusehen, um zu wissen, dass ihre Worte auch die Aufmerksamkeit seines Partners erregt hatten.
Langsam, mit großen Pausen, sprach sie weiter. Ihre Augen waren weit aufgerissen und blicklos, als würde sie nach innen sehen. »Es ist dunkel im Zimmer. Er wartet, bis sie allein ist. Er kann sie in der Küche hören, wie sie mit ihrem Mann redet. Der Mann geht. Er wartet, bis der Wagen ihres Mannes aus der Einfahrt vor dem Haus fährt, dann öffnet er die Tür und beginnt, sie zu verfolgen. Er fühlt sich wie ein Jäger auf der Pirsch nach dem Wild.«
Wieder hielt sie inne, dann fuhr sie fort: »Aber sie ist eine leichte Beute. Sie steht in der Küche und gießt sich nun eine Tasse Kaffee ein. Er nimmt ein Messer aus dem Messerset, das auf der Anrichte steht, als hätte es auf ihn gewartet. Sie hat ihn gehört und dreht sich um. >Ansel?< sagt sie, aber dann sieht sie ihn und öffnet den Mund, um zu schreien. Doch er ist ihr schon zu nahe. Er hat sie schon gepackt, eine Hand hat er auf ihren Mund gepresst und hält ihr das Messer an den Hals.«
Marlie Keen unterbrach sich. Dane starrte gebannt auf ihr Gesicht. Sie war ganz blass geworden, stellte er fest, bis auf ihre vollen roten Lippen. Er fühlte, wie sich die kleinen Härchen in seinem Nacken aufrichteten, weil sie in der Gegenwart gesprochen hatte, als würde der Mord in diesem selben Augenblick stattfinden.
»Sprechen Sie weiter«, drängte der Leutnant.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatte. Ihre Stimme klang noch tonloser als zuvor, als könne sie sich so von ihren eigenen Worten distanzieren. »Er bringt sie dazu, ihr Nachthemd auszuziehen. Sie weint und fleht ihn an, ihr nichts zu tun. Das gefällt ihm. Er möchte, dass sie bettelt. Er möchte, dass sie glaubt, dass er ihr nichts tun wird, wenn sie das tut, was er von ihr verlangt. Es macht mehr Spaß, wenn ihr dann endlich klar wird ... «
Sie brach ihre Erklärung ab, beendete den Satz nicht. Nach einem Augenblick nahm sie den Faden wieder auf. »Er benutzt ein Kondom. Sie ist erleichtert darüber und bedankt sich bei ihm. Er geht sanft mit ihr um, beinahe freundlich. Deshalb entspannt sie sich allmählich, obwohl sie noch immer weint; aber er tut ihr nicht weh, und sie glaubt, dass er einfach gehen wird, wenn er fertig ist. Er weiß, was die blöden Weiber denken.«
Marlie holte tief Luft. »Als er fertig ist, hilft er ihr aufzustehen. Er hält ihre Hand, beugt sich zu ihr und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Sie steht ganz einfach nur da, bis sie das Messer fühlt. Der erste Stich ist nicht tief, darauf achtet er. Er ist nur tief genug, damit sie begreift, was passieren wird, damit er den Ausdruck in ihren Augen sehen kann, die Panik. Aber der Stich darf nicht so tief sein, dass die Jagd dadurch langsamer wird. Dann würde es keinen Spaß mehr machen.
Das Entsetzen packt sie, sie schreit und versucht wegzulaufen, was tatsächlich seine Raserei anfacht. Bis jetzt hat er sich zurückgehalten, hat mit ihr gespielt, hat ihre Angst und ihre Erniedrigung genossen, hat ihr erlaubt zu hoffen, doch jetzt kann er alles rauslassen. Jetzt kann er endlich das tun, wofür er gekommen ist. Das ist es, was ihm am besten gefällt, der völlige Terror, den er in ihren Augen lesen kann, das Gefühl der Unbesiegbarkeit. Er kann alles mit ihr machen, was er will. Er hat völlige Macht über sie, und das genießt er. Er ist ihr Gott; ihr Leben oder ihr Tod liegt jetzt in seiner Hand, es ist seine Entscheidung. Aber natürlich hat er für sie den Tod vorgesehen, denn das bereitet ihm am meisten Vergnügen.
Sie kämpft, doch der Schmerz und der Blutverlust machen sie langsam. Sie schafft es noch bis ins Schlafzimmer, dort fällt sie hin. Er ist enttäuscht, er hatte sich gewünscht, dass der Kampf länger dauert. Es macht ihn wütend, dass sie so schwach ist. Er beugt sich über sie, um ihr den Hals durchzuschneiden, um alles zu beenden, doch das Weib geht auf ihn los. Sie hat nur so getan, als sei sie fertig und schlägt auf ihn ein. Er hatte eigentlich ein schnelles Ende machen wollen, doch jetzt wird er es ihr zeigen; sie hätte nicht versuchen sollen, ihn auszutricksen. Seine Tobsucht ist jetzt wie ein rotglühender Ballon, er wird größer und größer und füllt ihn ganz aus. Er sticht auf sie ein, wieder und wieder, bis er müde wird. Nein, nicht müde. Er ist viel zu mächtig, um müde zu werden. Es langweilt ihn. Es war ihm zu schnell vorbei; sie hat ihre Chance gehabt. Mit ihr hat es nicht den Genuss gebracht, den er sich erhofft hat.«
Im Zimmer war es ganz still. Nach ein paar Sekunden stellte Dane fest, dass ihr Bericht abgeschlossen war. Sie saß wie eine Statue in ihrem Sessel, ihre Blicke hingen noch immer an den Jalousien.
Leutnant Bonness schien von Danes und Trammells Reaktion enttäuscht zu sein. »Nun?« fragte er ungeduldig.
»Nun, was ?« Dane stieß sich von der Wand ab. Während er dieser ausdruckslosen, gefühllosen Stimme gelauscht hatte, war Wut in ihm aufgestiegen, eine kalte, kontrollierte Wut. Er wusste nicht, was dieses Weib für einen Grund hatte hierher-zukommen, aber eines wusste er ganz sicher, und dafür musste er keine übersinnlichen Fähigkeiten besitzen: Sie war dabeigewesen. Vielleicht hatte sie selbst Mrs. Vinick umgebracht, vielleicht auch nicht, aber sie war immerhin im Haus gewesen, als der Mord geschah. Mindestens also war sie eine Komplizin, und wenn sie glaubte, sie könne einfach hier hereinspazieren und ihnen diese alberne Geschichte auftischen und dann eine Menge Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen, während sie nach ihrer Pfeife tanzten, dann war sie an die Falschen geraten.
»Was haltet ihr davon?« fuhr Bonness die beiden an; er war irritiert, dass er ihnen diese Frage überhaupt stellen musste
Dane zuckte mit den Schultern. »Übersinnliche Fähigkeiten? So ein Quatsch, Leutnant. Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe.«
Marlie Keen bewegte sich, langsam entkrampften sich ihre Hände, als fiele ihr diese Bewegung schwer. Und genauso langsam wandte sie dann den Kopf und sah Dane zum ersten Mal an. Trotz seiner eisigen Wut zogen sich sofort seine Bauchmuskeln zusammen. Kein Wunder, dass Bonness darauf hereingefallen war! Ihre Augen waren von dem tiefen, dunklen, unergründlichen Blau des Ozeans, es waren Augen, in die ein Mann blickte und dann vergaß, was er hatte sagen wollen. Irgend etwas Exotisches lag in diesen Augen, es war mehr als nur die Farbe, eine unermessliche Ferne, die er nicht völlig begreifen konnte. Doch der Ausdruck dieser Augen war durchaus zu verstehen, und Dane wusste ohne jeden Zweifel, dass er sie mit seiner Offenheit nicht gerade überwältigt hatte.
Sie stand auf und sah ihn an, trat ihm gegenüber, als wären sie zwei Gegner im alten Westen, die im nächsten Augenblick die Pistole ziehen würden. Ihr Gesicht war ruhig und eigenartig abwesend. »Ich habe Ihnen gesagt, was geschehen ist«, erklärte sie mit nüchterner, entschlossener Stimme. »Sie können das glauben oder auch nicht, für mich macht das keinen Unterschied.«
»Das sollte es aber«, antwortete er genauso entschlossen.
Sie fragte ihn nicht, warum, obwohl er ihr die Möglichkeit dazu gab. Statt dessen verzog ihr Mund sich zu einem kleinen, humorlosen Lächeln. »Ich stelle fest, ich bin gerade zu Ihrem Hauptverdächtigen geworden«, murmelte sie. »Also, ich möchte Ihnen Zeit ersparen, bitte, hier ist meine Adresse, 2411 Hazelwood, und meine Telefonnummer, 555-9909.«
»Sie kennen den Vorgang«, meinte er mit sarkastischer Bewunderung. »Das überrascht mich nicht.« Er trat einen Schritt näher, so nahe, dass sie aufblicken musste, um in seine Augen zu sehen, so nahe, dass er sie bedrängte und unterschwellig bedrohte. »Oder vielleicht lesen Sie ja nur meine Gedanken, da Sie doch so erstaunliche Fähigkeiten besitzen.« Die letzten Worte betonte er ausdrücklich. »Deshalb können Sie mir vielleicht auch sagen, wie es jetzt weitergeht, es sei denn, Sie brauchen eine Kristallkugel, um zu sehen, was ich denke.«
»Oh, dafür braucht man keine Gedanken lesen zu können. Sie sind nicht direkt originell.« Sie hielt inne, dann bedachte sie ihn noch einmal mit einem kleinen Lächeln. »Ich habe nicht die Absicht, die Stadt zu verlassen.« Sie wich nicht vor ihm zurück, und wieder zogen sich die Muskeln in seinem Bauch zusammen. Auf den ersten Blick hatte sie ausgesehen wie eine Schlampe, ein Nichts, das sich davor fürchtete, sich attraktiver zu machen, doch ein Blick in ihre Augen hatte seine Meinung geändert. Die Frau, die ihm gegenüberstand, besaß keinen Mangel an Selbstsicherheit, und sie war kein bisschen eingeschüchtert von ihm, obwohl er beinahe dreißig Zentimeter größer war als sie. Und noch etwas fiel ihm auf. Verdammt, er konnte sie riechen, es war ein süßer, sanfter Duft, der nichts mit Parfüm zu tun hatte, sondern mit weiblicher Haut. Seine unbewusste Reaktion darauf machte ihn nur noch wütender.
»Sorgen Sie dafür.« Seine Stimme war leise und grob. »Gibt es sonst noch etwas, was Sie in Ihrer Kristallkugel gesehen haben, etwas, was Sie mir sagen möchten?«
»Aber natürlich«, schnurrte sie, und das plötzliche Aufblitzen ihrer blauen Augen sagte ihm, dass er ihr in die Falle getappt war. »Scheren Sie sich zum Teufel, Herr Kommissar! «